von P. Ludger A. Fortmann OP
Erinnerungen können schmerzen. So ist es bestimmt, wenn Menschen auf verletzende Erfahrungen ihrer Jugendzeit schauen und sich ihnen stellen. Angesichts der bedrückenden Situation, dass es in der katholischen Kirche zu übermäßiger Gewalt, sexuellem Missbrauch und Grenzüberschreitungen gekommen ist, wollten auch wir Dominikaner wissen, wie die Situation in unserer Internatsschule war, am Kolleg St. Thomas in Vechta in den Jahren 1947 bis 1990. Immer wieder erzählten Ehemalige von der ‚harten Hand‘, mit der etwa P. Walbert das Internat geführt hat, aber war da noch mehr, bisher verschämt verschwiegen vom Orden oder ehemaligen Schülern?
Sehr bald – bereits 2010, also in der Folge der Veröffentlichungen über das Canisius-Kolleg in Berlin – meldeten sich einige ehemalige Thomaner und erzählten von schlimmen Erlebnissen in Füchtel1. Der Konvent und die Ordensprovinz entschieden deshalb, dass eine Aufarbeitung stattfinden soll. Doch in welcher Form? Wie sahen die rechtlichen Bestimmungen z.B. hinsichtlich des Datenschutzes aus? Welche Quellen standen zur Verfügung? Und schließlich: Wer konnte für ein solches Unternehmen, für das es bundesweit kein Vorbild gab, gewonnen werden? Nach vielen Überlegungen und Klärungen übernahm es schließlich Frau Dr. Maria Anna Zumholz, eine Studie zu erarbeiten, in der das Thema ‚Gewalt und Missbrauch‘ in einem historischen Kontext verortet wurde. Das war der Autorin und uns wichtig: Wir wollten keine Missbrauchsstudie, die ‚Fälle‘ auflistet und dann womöglich mit Statistiken aufwartet. Wir wollten vielmehr eine Darstellung, die das Leben im Internat beschreibt, die hellen und die dunklen Seiten, Erfolg und Leid, Gemeinschaft und Alleinsein. Und es sollte in einen historischen Zusammenhang gestellt werden, denn die Kriegserfahrungen, die Aufbaujahre, die familiären Situationen spielten eine große Rolle, um manches Verhalten zu verstehen. Sehr wichtig dabei war und ist der Grundsatz: Es soll nichts entschuldigt, verharmlost oder wegerklärt werden, aber es sollen Mechanismen verstehbar gemacht werden, nicht zuletzt deshalb, um damit heute arbeiten und mögliche Missbrauchssituationen vermeiden zu können2.
Das Ergebnis: ambivalent. Während ein Großteil der Schülerschaft sagen kann, dass die Jugendzeit am Kolleg für sie gut und erfüllend war, sagt ein anderer Teil, dass es eine schlimme, ja verletzende Zeit war. Beides ist richtig, beides wird in umfangreichen Beschreibungen des Internatsalltages anschaulich dargestellt und nachvollziehbar. Deshalb braucht es den ehrlichen Blick auf die konkreten, sehr persönlichen Situationen, die nicht bewertet werden können, sondern die es respektvoll zur Kenntnis zu nehmen gilt. Es gab dabei viel Gutes, auf das man dankbar schauen kann. Aber es gab eben auch manches, was schlimm war und bis heute weh tut.
Schmerzhaft war und ist es für die Betroffenen, mit den Zumutungen in ihrer Jugendzeit noch einmal konfrontiert zu werden. Umso dankbarer sind wir, dass so viele bereit waren, zu berichten: von Schlägen, von Beschämung, von quälender Ohnmacht, von Sprachlosigkeit und Alleingelassen werden. Schmerzhaft war es für uns Dominikaner, denn Täter waren Mitbrüder, der Ort des Geschehens war unsere Schule, Verrat wurde begangen an unseren Idealen. Schmerzhaft war es wohl auch für die heutige Schülergeneration und die Kolleginnen und Kollegen, denn Missbrauch gehört, so ist nun schwarz auf weiß nachzulesen, zu unserer Schulgeschichte.
Präsentiert wurde die Studie am 24. April 2023 im Metropol-Theater. Eine Reihe Ehemaliger waren nach Vechta gekommen und die Reaktion war durchweg positiv. Positiv in diesem Sinne: Ja, so war es! Eben amivalent, es gab Licht und Schatten, viel Schönes, aber auch Schlimmes. Gut, dass es angeschaut wird, dass die Lebensgeschichte der einzelnen so ernstgenommen und respektiert wird.
Erinnerungen können schmerzhaft sein, denn sie tragen den Appell in sich, auf das Heute zu schauen. Und so sind wir in der Schule gefragt, jetzt genau hinzusehen und aus den Erkenntnissen der Studie zu lernen. Diese beschreibt eine längst vergangene Internatssituation, aber sind nicht die Chatgruppen der Schülerinnen und Schüler vergleichbar geschlossene Systeme? Den dort verbreiteten Kommentaren kann keiner entkommen, für sie gilt erbarmungslos 24/7. Was ist mit denen, die dort übergriffige Gewalt in Wort und Bild ertragen müssen? Wer merkt es, wenn keiner das Smartphone kontrollieren darf oder will?
Eine Rückmeldung aus der Internatszeit war, dass Schüler sich alleingelassen fühlten: Sie fanden keine Worte für das Thema Sexualität, keine Solidarisierung mit anderen Schülern, keinen Ansprechpartner bei den Erziehern. So ist es für uns heute wichtig, für die Themen ‚Gewalt‘ und ‚Grenzverletzung‘ zu sensibilisieren. Selbstverständlich geworden ist in wohl allen kirchlichen Arbeitsbereichen eine gute Präventionsarbeit. Für uns gilt besonders, vertrauensvolle Orte zu schaffen (Vertrauenslehrerinnen und -lehrer, Beratung, Schulseelsorge etc.) und v.a. eine Sprachfähigkeit für das Thema zu entwickeln.
Ein erschreckendes Phänomen der Gewalterfahrungen damals war, dass offenbar viele von dem Geschehen wussten. Übermäßige Prügelei geschah nicht heimlich, sondern vor allen im Speisesaal. Eltern, Mitschüler, Erzieher, Patres – sie sahen es und spürten auch (mindestens das!), dass hier etwas falsch lief. Ist das heute so viel anders? Alle wissen, wieviel Gewalt und Hass in Wort und Bild über die verschiedenen Internet-Kanäle auf junge Menschen einstürzen. Alle wissen, dass Kinder und Jugendliche dieser Gewalt ausgeliefert sind und dass es Folgen hat hinsichtlich eigener Grenzsetzungen, Folgen für die Entwicklung von Empathie und Beziehungsfähigkeit, Folgen für die Wortwahl und damit für den alltäglichen Umgang miteinander. Alle wissen darum – aber im konkreten Fall schauen doch viele weg und schieben die Verantwortung von einem zum andern. So viel hat sich offenbar nicht geändert.
Frau Dr. Zumholz stellte noch einmal ihre Expertise und ihre Zeit zur Verfügung, um in Gesprächen mit den Schülerinnen und Schülern, dem Lehrerkollegium und mit interessierten Eltern das Thema aufzuspannen. An uns ist es nun, damit weiterzuarbeiten und so die geschichtliche Studie fruchtbar zu machen für unser Schulleben heute.
Erinnerungen können schmerzen. Die Erkenntnisse der „Schul- und Internatsgeschichte“ war in Manchem schmerzhaft, eine Zumutung für alle, die mit uns hier in Füchtel leb(t)en und arbeiten. Aber ein ehrlicher Blick kann auch Gutes ermöglichen. So waren viele Ehemalige dankbar, dass ihre Geschichte in dieser Form achtungsvoll wahrgenommen wird. Und wir können hoffentlich so daraus lernen, dass unseren Schülerinnen und Schülern in ihrer Schulzeit solche Schmerzen und Verletzungen erspart bleiben.
Literaturhinweis:
Maria Anna Zumholz
Das Kolleg St. Thomas in Vechta / Füchtel 1947-1990
Schriften des Instituts für Regionalgeschichte, Bd.4
Aschendorff Verlag Münster
ISBN 978-3-402-24960-4 28,- EUR
1Es würde hier zu weit führen, die Ereignisse und Rückmeldungen in den Jahre 2010 bis 2019 detailliert darzustellen. Dies hat Frau Dr. Zumholz sehr genau in ihrer Studie getan, die hiermit nachdrücklich empfohlen sein soll.
2Hier nur einige kurze Hinweise auf das Verfahren. 1. Der Orden stellte Frau Dr. Zumholz alle verfügbaren Unterlagen zur Verfügung: aus dem Archiv in Vechta, dem Provinzarchiv und die Personalakten. Im Quellenstudium und der Quellennutzung, in der Schwerpunktsetzung und der Bewertung war die Autorin völlig frei. 2. Die Dominikaner standen, wenn gewünscht für Fragen oder klärende Gespräche zur Verfügung, mischten sich aber sonst nicht in die Arbeit ein. Das Ergebnis war auch den Dominikanern bis zur Präsentation unbekannt. 3. Frau Dr. Zumholz bezog die Ehemaligen durch eine breit angelegte Fragenbogenaktion mit ein. Diese stieß auf gute und damit hilfreiche Resonanz. Befragt wurden alle ehemaligen Schüler, deren Adressen der Schule aktuell vorliegen bzw. die durch Kontakte zu Mitschülern erreichbar waren und die eine Zusendung der Fragebögen nicht ausdrücklich ablehnten.